Der "007" aus Sachsen
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Die Geschichte einer erfolgreichen Flucht aus der DDR, mit tödlichem Ausgang.
1967 erfand Bernd Böttger den Aqua Scooter und floh damit in den Westen. Sein kurzes Leben endete mit 32 Jahren und hat die Dimension eines Thrillers. Aufgeschrieben von dem Journalisten und Fotografen Bodo Müller, Travemünde. Der junge Marine-Offizier Christian Christiansen langweilt sich zu Tode auf dem dänischen Feuerschiff "Gedser Rev". Es liegt genau in der Mitte zwischen Gedser und Warnemünde und ist das wichtigste Leuchtfeuer zur Sicherheit des Schiffsverkehrs in der Kadet-Rinne. Nach Gedser im Norden bzw. Warnemünde im Süden beträgt die Entfernung je zwölf Seemeilen. Die Insel Fehmarn liegt 24 sm weit im Westen. Am Sonntag, dem 8. September 1968 hat Christiansen den ganzen Tag lang versucht, seinen Kofferfernseher mittels einer hoch im Mast angebrachten Antenne zu aktivieren. Vom dänischen Fernsehen empfängt er nur ein krisseliges Bild ohne Ton. Das westdeutsche Fernsehen kriegt er gar nicht rein. Lediglich das DDR-Fernsehen kann er halbwegs sehen, doch Bild und Ton verschwinden immer, wenn sich das vor Anker liegende Feuerschiff bewegt. Um 23 Uhr schaltet Christiansen genervt die Glotze ab, denn im ostdeutschen TV beginnt ein Russischkurs. Um Mitternacht schreibt er die Wetterdaten ins Bordbuch: Wind 1-2 Beaufort aus Südost, Lufttemperatur 15°C, Wasser 17°C. Es ist noch immer ein wunderbar warmer Sommer. Wenn nur die Langeweile an Bord nicht wäre. Bis 6 Uhr muss er noch aushalten, dann darf er sich Schlafen legen. Punkt 4 Uhr morgens geht Christiansen wieder an Deck, um von der kleinen Wetterstation die Daten abzulesen und ins Bordbuch zu tragen. Es ist eine sternenklare Nacht und das Meer ist glatt. Aus Richtung Süden sieht er eine einzelne Welle auf sich zu rollen. Was ist denn das? Kurz vor dem Feuerschiff wird sie kleiner und verschwindet. Er schenkt der merkwürdigen Welle keine weitere Bedeutung. Plötzlich hört er eine menschliche Stimme. Kann das sein? Mitten auf der Ostsee? Er rennt ins Steuerhaus und greift das Fernglas. Er sucht den gesamten Horizont ab. Kein Boot oder Schiff ist zu sehen. Hat er sich getäuscht? Da hört er die Stimme wieder. Jemand ruft "Help, help!" Christiansen schlägt mit der Schiffsglocke Alarm. Eine Minute später sind alle sechs Mann der Crew an Deck. Sie richten an Steuerbord, wo die Stimme zu hören ist, einen Scheinwerfer aufs Wasser und entdecken den Kopf eines jungen Mannes. Sofort werfen sie eine Leine über Bord, an der sich der Unbekannte festhalten soll. Minuten später hängt die Strickleiter au°enbords. Während Christiansen sich noch eine Schwimmweste anlegt, um dem vermeintlichen Schiffbrüchigen aus dem Wasser zu helfen, kommt dieser schon aus eigener Kraft lächelnd die Strickleiter hoch geklettert und benutzt dabei nur eine Hand, weil er in der anderen ein merkwürdiges Gerät hält. "Guten Morgen, ich heiße Bernd Böttger und komme aus Sebnitz bei Dresden. Darf ich bei Ihnen an Bord kommen?" Fragt der Fremde im schönsten Sächsisch. Er darf sich hei° duschen, erhält trockene Kleidung und ein Frühstück und sollte eigentlich schlafen. Doch die dänischen Seeleute wollen unbedingt wissen, wie er es geschafft hat, so weit zu schwimmen und was das für ein Apparat ist. "Ich bin nicht geschwommen," antwortet Bernd. "Das ist mein U-Boot und ich habe mich nur rangehängt." Christiansen sendet einen verschlüsselten Funkspruch an die Marineheimwehr nach Gedser. Die DDR-Volksmarine soll auf keinen Fall etwas davon erfahren. Gegen 10 Uhr geht eine Barkasse der dänischen Marine am Feuerschiff längsseits. Bernd Böttger darf mit seinem U-Boot umsteigen und betritt anderthalb Stunden später dänisches Festland. Dort wird er schon von einem Reporter der größten Tageszeitung "Berlingske" sowie einem Team des dänischen Fernsehens erwartet. Bernd Böttger gibt Interviews und führt sein Mini-U-Boot vor. Einen Tag später reist Bernd weiter nach Lübeck. Auch in der Bundesrepublik ist er vom ersten Augenblick an ein Medien-Star. Sein Mini-U-Boot, das jetzt Aqua Scooter genannt wird, und die tollkühne Fluchtgeschichte erscheinen in allen großen Zeitungen. Die Wochenzeitschrift "Neue Revue" feiert ihn mit der Schlagzeile "Unter Wasser in die Freiheit - Die tollste Flucht des Jahres 1968". Er gibt Fernsehinterviews u.a. für den Sender Freies Berlin und ist mit seinem U-Boot Gast der NDR-Sendung "Die Aktuelle Schaubude". In der "Arbeitsgemeinschaft 13. August" e.V., die in West-Berlin das Fluchtmuseum "Haus am Checkpoint Charlie" betreibt, stellt Böttger sein Mini-U-Boot aus. Spätestens jetzt interessiert sich Stasi-Chef Generaloberst Erich Mielke persönlich für ihn. Ein Fall für die DDR-Staatssicherheit war Bernd Böttger bereits als Jugendlicher. Im Sommer 1958, Bernd ist 17 Jahre jung, hat er seine erste dreistufige Feststoff-Rakete, die er hoch in den Himmel steigen lassen will, startklar. Auf einer Wiese unweit seiner Heimatstadt Sebnitz zündet er am 10. Juni 1958 die Rakete. Sie steigt auf und verschwindet im Himmelsblau. Dummerweise umkreist sie nicht die Erde, sondern landet kurz darauf - mitten im Hof des Volkspolizei-Kreisamtes von Sebnitz. Gerade ist Bernd wieder in seiner Kellerwerkstatt angekommen, erhält er Besuch von mehreren Männern im Ledermantel. In seiner Hosentasche hat er eine Kartusche voller Schwarzpulver. Während ihm die Stasi-Männer bereits im Keller die ersten Fragen stellen, lässt er hinter seinem Rücken den Sprengstoff in einem Brikett-Haufen verschwinden. Er gibt zu, dass er die Rakete gebaut hat. Seine Jugendlichkeit schützt ihn vor Strafe. Bernd lernt nach dem Abschluss der 8. Klasse im VEB Sächsisches Kunstseidenwerk Pirna den Beruf des Chemiefacharbeiters. Ab September 1958 arbeitet er im VEB Pyrotechnik Silberhütte in Harzgerode. Jetzt hat er beruflich mit Sprengstoff und Raketen zu tun. Die Stasi hat ihn weiter im Visier. Den Genossen wurde zugetragen, dass Bernd wisse, wie man Menschen mit auf dem Rücken geschnallten Raketentriebwerken über Hindernisse fliegen lassen kann. Bernd ist auffallend wissbegierig und erfindungsreich. Nach nur einem Jahr Betriebszugehörigkeit wird er mit 18 Jahren zum Direktstudium an die Ingenieurschule nach Magdeburg delegiert. Nach fünf Semestern muss er die Fachschule verlassen - wegen angeblicher Schwächen in Mathematik und Organischer Chemie. In einem Stasi-Bericht heißt es allerdings, dass er "wegen negativen Diskussionen oder anderen Sachen, die sich gegen unsere Republik richteten, von der Schule verwiesen wurde." Als am 13. August 1961 in Berlin die Mauer gebaut wird, hält sich Bernd mit dem jüngeren Bruder Achim in Westberlin auf. Die Mutter ist in Ostberlin. Da die Mutter nicht mehr zu ihnen kommen darf, gehen die Kinder wenige Tage nach Mauerbau zurück in die DDR. Bernd lernt tauchen und experimentiert mit Verbrennungsmotoren. Er besitzt zwei in den 1930-er Jahren gebaute Opel-Pkw sowie mehrere alte Motorräder. Im Januar 1963 führt er einen Motorschlitten mit Propellerantrieb vor. Vor den staunenden Sebnitzern rodelt er damit bergauf. Doch im Geheimen plant er eine Erfindung, mit der er aus der DDR fliehen kann. Es soll ein Wasserfahrzeug werden, das niemand sehen kann. Seine Paten-Tante aus Allensbach am Bodensee schickt ihm am Jahresende 1966 im Weihnachtspaket einen nagelneuen Neopren-Anzug, inklusive Kopfhaube. Diese Nassanzüge für Taucher stellt seit 1954 die Firma Barakuda her. Mit einem Neo kann man sich stundenlang im Wasser aufhalten, ohne dass die Körpertemperatur sinkt. Jetzt braucht Bernd nur noch ein Fahrzeug, das ihn unter der Wasseroberfläche durch die Ostsee zieht. Bernd entscheidet sich, ein Mini-U-Boot zu bauen, an das er sich anhängen kann und das ihn durchs Meer schleppt. So etwas hat es noch nie gegeben. Der Seeweg von der DDR-Küste bei Rostock nach Dänemark ist etwa 45 Kilometer weit. Vom Ostseebad Boltenhagen bis Schleswig-Holstein sind es 22 Kilometer. Die beste Zeit, durch die Ostsee zu fliehen, ist im Spätsommer. Dann ist das Wasser warm und die schützende Nacht relativ lang. Er muss also ein U-Boot konstruieren, das ihn mit möglichst großer Geschwindigkeit durch die Ostsee zieht, um im Schutze der Dunkelheit die Seegrenze zu durchbrechen. Die benötigte Leistung, um einen Menschen unter Wasser zu schleppen, schätzt er auf mindestens 1 kW oder 1,5 PS. Ein Elektromotor wäre leicht gegen Wasser abzudichten, da er keine Luftzufuhr benötigt. Doch es gibt keine Batterien oder Akkus, die genug Energie für eine derartig hohe Leistung über viele Stunden zur Verfügung stellen. Also muss er ein U-Boot mit Benzinmotor bauen. Der Motor soll maximal zehn Kilo schwer sein, um ihn mit gefülltem Tank zum Strand tragen zu können. Bernd muss nicht lange nach der Antriebsmaschine für sein U-Boot suchen. Am besten gefällt ihm der Hühnerschreck-Motor. Er war von 1954 bis 1959 der populärste Fahrrad-Hilfsmotor in der DDR. Wegen der später produzierten Mopeds wird der Hühnerschreck nicht mehr hergestellt. Bernd beschafft sich für wenig Geld ein gebrauchtes Exemplar. Offiziell heißt die Maschine MAW-Hilfsmotor, benannt nach dem Hersteller VEB Messgeräte- und Armaturenwerk in Magdeburg. Der 6 kg leichte 1-Zylinder-Zweitaktmotor hat 49,5 cm3 Hubraum und eine Leistung von etwa 1 kW. Alle Teile des Motors sind sehr einfach und ohne jeden technischen Schnickschnack gebaut. Darum ist der Hühnerschreck-Motor extrem robust - allerdings auch sehr laut, was ihm zu seinem Namen verhalf. Bernd dichtet alle wasserempfindlichen Teile wie Vergaser, Zündspule und Unterbrecher mit Kunststoff ab. Für die Ansaugluft und die Abgase baut er einen etwa ein Meter langen Schnorchel, der zur Wasseroberfläche führt. 1966 hat er sein U-Boot soweit entwickelt, dass er es in verschiedenen Seen in der Umgebung von Sebnitz ausprobiert und immer weiter perfektioniert. Ein Problem ist der Schnorchel für die Ansaugluft. Taucht er kurz unter oder eine Welle spült darüber, geht der Motor aus. Auch ist das U-Boot sehr laut und jeder in der Umgebung hört sofort, dass da ein Hühnerschreck unter Wasser fährt. Bernd wurde von vielen Passanten mit seiner Erfindung gesehen. Er macht kein Geheimnis mehr daraus und testet es zu Saisonbeginn 1967 im Sebnitzer Schwimmbad. Am 14.06.1967 reist er mit Zelt und dem U-Boot im Kofferraum zum Templiner See nördlich von Berlin. Auf dem Weg dorthin trifft er sich in der DDR-Hauptstadt mit seiner Freundin, der Schülerin und Langstreckenschwimmerin Maja O. Sie vereinbaren, dass sie gemeinsam an Bernds U-Boot hängend in den Westen fliehen wollen. Bernd besitzt einen nagelneuen Neoprenanzug. Für Maja hat er neben Schnorchel, Maske und Flossen auch eine alte Neo-Jacke, die er 1963 von seiner West-Tante geschenkt bekam, mitgebracht. Zusätzlich hat er eine ihrer Gymnastikhosen mit gummiertem Material beklebt, das vor Unterkühlung schützen soll. Auch eine Kopfhaube hat er für sie gebaut. Alles sitzt perfekt. Aus Sicherheit vereinbaren sie, keinen postalischen oder telefonischen Kontakt mehr aufzunehmen. Am 20. Juli 1967 wollen sie sich an der Ostsee treffen. Am Templiner See unternimmt Bernd Probefahrten mit seinem U-Boot und verbessert noch einige Details der Technik. Dass es insbesondere in der Nacht einen solch höllischen Krach macht, stört ihn sehr. Doch das kann er nicht mehr ändern. Am 28. Juni 1967 reist er weiter nach Boltenhagen und meldet sich auf dem Zeltplatz Wohlenberger Wiek an. Boltenhagen ist der letzte Ort an der DDR-Küste, der von Urlaubern besucht werden darf. Hinter dem Ortsteil Redwisch am nordwestlichen Ende von Boltenhagen beginnt das Grenz-Sperrgebiet. Von dort bis nach Travemünde sind es - würde man an der Küste entlang tauchen - 24 Kilometer. Doch diese Küste ist streng bewacht. Hier will er sich mit seiner Freundin vom U-Boot aufs Meer ziehen lassen. Sein Ziel ist Schleswig-Holstein. Er sucht nach einem idealen Platz zum Ablanden in der Nacht. Es ist Urlaubszeit, viele Leute sind am Strand. In seiner unkomplizierten Art plaudert Bernd mit den Grenzsoldaten und versucht, Details der Grenzsicherung heraus zu bekommen. Dabei ahnt er nicht, dass ihn die Stasi schon im Visier hat. Am 7. Juli 1967 fährt er nach 20 Uhr mit dem Bus zur Steilküste zwischen Boltenhagen und dem Ortsteil Redwisch. Er spaziert am Strand entlang und hofft, eine wenig frequentierte Stelle zum heimlichen Ablanden zu finden. Um 23 Uhr geht er nach Nordwesten zur Steilküste. Plötzlich springen zwei Soldaten aus den Büschen. Sie halten ihre Kalaschnikows auf ihn: "Hände hoch! Sie sind festgenommen!" Dreieinhalb Monate sitzt Bernd in U-Haft in Dresden. Am 26. September 1967 klagt ihn das Kreisgericht Sebnitz "Wegen Vorbereitung zum illegalen Verlassen der DDR" an. Während der Verhandlung streitet Bernd ab, die DDR illegal verlassen zu wollen. Das U-Boot habe er konstruiert, um das Rettungswesen in der DDR zu revolutionieren. Da Bernd im Sommer als Rettungsschwimmer gearbeitet hatte, klingt das Argument nicht völlig aus der Luft gegriffen. Der Richter urteilt milde: Bernd bekommt eine Gefängnisstrafe von acht Monaten, die für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt wird. Sein U-Boot wird eingezogen. Den für ihn so wichtigen Neoprenanzug bekommt er zurück. Als Bernd wieder auf freien Fuß kommt, hat er bereits ein neues und besseres U-Boot konstruiert. Die komplette Konstruktion hat er sich im Knast ausgedacht. Es gibt keine Skizze. Alles hat er in seinem Kopf. Und jetzt wird niemand etwas davon erfahren. Kaum aus dem Gefängnis entlassen, beginnt er sofort mit dem Bau des neuen U-Bootes. Es steckt voller Neuerungen, die simpel und doch bahnbrechend sind. Damit ihn der knatternde Hühnerschreck nicht mehr verrät, werden die Auspuffabgase nicht direkt nach draußen, sondern zunächst in einen faustgroßen Gummiball geleitet, der die Stöße des Kolbenhubs dämpft. Von dort werden die Abgase in den Tank über das Benzin geführt. Der Tank darf darum nur bis zur Hälfte mit Sprit gefüllt sein. Vom Tank gelangen die Abgase in eine kleine Luftkammer, über der ein Schnorchel zum Ansaugen der Frischluft und ein Wasserabscheider sitzen. Frischluft und Abgase werden also zusammen geführt und über ein und denselben Schnorchel geleitet. In diesem herrscht bei laufender Maschine ein leichter überdruck, so dass eventuell in den Schnorchel eindringendes Wasser wieder ausgesto°en wird. Der überdruck in der Luftkammer hat den Nebeneffekt, dass die Verbrennungsluft nicht angesaugt, sondern mit leichtem Druck in den Motor gepresst wird, was zu einem Turbo-Effekt führt. Dass die Maschine einen Teil seiner Abgase wieder in den Verbrennungsraum schickt, macht dem Zweitakter nichts aus. Einzig besteht das Risiko, dass dadurch die Zündkerze verru°en kann. Aus diesem Grund konstruiert Bernd die wasserdichte Stromzuführung zur Zündkerze so, dass er sie im aufgetauchten Zustand abnehmen und die Zündkerze ausschrauben und reinigen kann. Zu dem Zweck kauft er eine Luftmatratze, die er auf See als Arbeitsplattform zum Kerzenreinigen aufblasen kann. Der so präparierte Motor springt durch Drehen des Propellers leicht an und ist unter Wasser kaum zu hören. Der 8. September 1968 ist ein warmer Spätsommertag. Bernd ist nachmittags auf dem Zeltplatz Graal-Müritz bei Rostock angereist, hat sich beim Platzwart angemeldet und sein Zelt aufgebaut. Das Auto parkt er dicht in Strandnähe. Seine Ausrüstung lässt er im Kofferraum. Er inspiziert kurz den Strand. Hier, weit entfernt von der Grenze nach Westdeutschland, ist keine Grenzstreife zu sehen. Kurz vor 22 Uhr ist die Luft noch 18 Grad warm und das Wasser misst 17 Grad. Es weht ein leichter Südostwind mit zwei Beaufort. Das ist nahezu ideal. Nur der noch relativ hohe Seegang macht ihm ein wenig Sorgen. Um 22 Uhr zieht er einen Pullover an und darüber seinen Neoprenanzug, inklusive Kopfhaube. Er nimmt Maske, Schnorchel und Flossen aus dem Auto, schließt die Kofferraumklappe wieder und sieht um sich. Die Ferienzeit ist vorüber. Nicht ein Urlauber ist am Strand. Jetzt oder Nie! Um 22.30 Uhr legt Bernd einen sechs Kilo schweren Bleigürtel um und nimmt sein U-Boot aus dem Kofferraum. In der anderen Hand hat er Flossen, Schnorchel und Maske. Er geht schnurstracks zum Strand, zieht die Flossen an, setzt Brille und Schnorchel auf und watet in die kalte Brandung. Im hüfttiefen Wasser stehend sieht er sich ein letztes Mal um. Er wird dieses Land nie wieder sehen. Plötzlich hört er Stimmen. Ein Mann ruft: "Do gucke ma', da jeht bei dor Gälte noch enor schwimm'." Mit einer Drehung am Propeller startet er sein U-Boot und hängt sich an. Dank des Bleigürtels geht Bernd sofort auf Tiefe. Sekunden später ist vom U-Boot und seinem Kapitän nichts mehr zu sehen oder zu hören. Erst nach langer Zeit wagt er, wieder aufzutauchen, um sich zu orientieren. Er ist allein auf dem nächtlichen Meer. Die mecklenburgische Küste liegt als flacher dunkler Streifen hinter ihm. Nur die Lichtkegel der Grenzwachtürme huschen übers Meer. Bernd ist schon so weit entfernt, dass ihn niemand mehr sehen kann. Er sucht über sich das Sternbild des Gro°en Wagens und die fünffache Verlängerung seiner Hinterachse. Das ist der Nordpolarstern. Wo der steht, muss Dänemark sein. Auf halbem Wege, so hat man ihm erzählt, soll das dänische Feuerschiff "Gedser Rev" liegen. Er hält es für wenig wahrscheinlich, auf dem weiten Weg übers Meer dieses Schiff zu treffen. Bernd weiß nicht einmal, welches Lichtsignal das Feuerschiff abgibt, denn Seekarten dürfen in der DDR nicht frei verkauft werden. Bernd schätzt die Geschwindigkeit, mit der ihn sein U-Boot zieht, auf fünf Stundenkilometer. Er ist in Hochstimmung. Das neue U-Boot mit so vielen technischen Neuerungen hat er nie ausprobieren können. Unglaublich! Seine Erfindung läuft wie ein Schweizer Uhrwerk. Und der Motor ist extrem leise. Gegen Mitternacht hört er plötzlich lautes Motorengeräusch. Nein, das ist nicht sein U-Boot! Er taucht auf und erschrickt. Ein DDR-Kriegsschiff hält auf ihn zu. Es ist ein HMSR - ein Hochsee- Minensuch- und Räumschiff der Volksmarine. Sie haben ihn entdeckt! Sind sie gekommen, um ihn festzunehmen? Oder wollen sie Ihn durch den Propeller ziehen? Oder freundlicherweise nur erschießen? Bernd sieht den grauen Bug des Kriegsschiffes wenige Meter vor sich. Er schaltet sein U-Boot aus, atmet tief aus und lässt sich dank seines Bleigürtels und seines zehn Kilo schweren U-Bootes auf Tiefe sinken. Dröhnend laut hört er über sich die Maschinen des Kriegsschiffes. Bernd lässt sich weiter sinken. Er weiß, dass er die Luft länger anhalten kann, als es die Mediziner raten. Immer tiefer sinkt er, gezogen vom Gewicht des U-Bootes und dem des Bleigürtels. Er muss wieder nach oben, sonst stirbt er. Doch seine Kräfte reichen nicht mehr. Er wirft den Bleigürtel ab und schnellt nach oben. Vom Kriegsschiff sieht er nur noch das Heck. Magen und Darm machen ihm jetzt Probleme und er überlegt kurz, ob er die mitgenommene Luftmatzratze aufbläst, um sich darauf auszuruhen. Er atmet mehrmals tief durch. Ob das U-Boot wieder anspringt? Bernd dreht mit ganzer Kraft am Propeller. Das U-Boot springt wieder an. Das beflügelt ihn. Seine Erfindung, die er sich im DDR-Knast ausgedacht hat, funktioniert perfekt. Er lässt sich jetzt, da er keinen Bleigürtel mehr hat, kurz unter der Wasseroberfläche durch die Ostsee ziehen und schiebt eine kleine Welle vor sich her. Plötzlich springt etwas vor ihm aus dem Wasser. Bernd erschrickt. Ein Dorsch, so groß wie er ihn noch nie gesehen hat, schwimmt vor ihm und lotst ihn durchs Meer. Bernd ist in Hochstimmung. Sein U-Boot schnurrt ohne Aussetzer. Bernd hat keine Uhr. Am östlichen Horizont scheint ihm das Licht etwas heller und rötlicher zu sein. Ob das ein Vorzeichen des Sonnenaufgangs sein kann? Aber die Sonne geht doch erst gegen 6.30 Uhr auf. Bernd war noch nie nachts auf dem offenen Meer. Vor sich sieht er Lichter. Sie blinken im unterschiedlichen Rhythmus in Rot und Grün. Sind das Fahrwassertonnen? über allem blinkt ein weißes Licht, das viel heller zu sein scheint. Ist das schon Dänemark? Sein U-Boot zieht ihn weiter durch die nahezu glatte See. Weil er keinen Bleigürtel mehr hat und es viel zu sehen gibt, hält Bernd jetzt den Kopf über Wasser. Plötzlich ist das weiße Blinklicht ganz nahe. Er nimmt das Gas weg und steuert zum Heck des fremden Schiffes. Dort weht im leichten Südwind eine große rot-weiße Flagge. Am Heck liest er den Heimathafen "Kopenhagen". Bernd schaltet den Motor aus und ruft erst "Hallo". Da keiner antwortet, schreit er laut: "Help, help!" In Westdeutschland angekommen, wird Bernd Böttger als Flüchtling des Jahres 1968 gefeiert. Er ist 28 Jahre jung, gut aussehend, sportlich trainiert und strahlt stets gute Laune aus. Vor allem ist er ein kreativer Techniker, der ständig etwas erfinden muss. Von Nikotin, Alkohol oder sonstigen Drogen hält er nichts. Stattdessen trinkt er Tee aus selbst gesammelten Kräutern. Obwohl ihm schöne Frauen zu Füßen liegen, interessiert ihn das wenig. Gleich mehrere Firmen bieten dem Erfinder Arbeit an. Bernd glaubt, dass er jetzt ein freies und selbst bestimmtes Leben führen kann. Er ahnt nicht, dass er auch im Westen im Visier der Stasi steht. Bernd möchte am liebsten sein U-Boot weiter entwickeln. Die Firma Babcock & Wilcox in Oberhausen, die technische Systeme zur Energiegewinnung konstruiert und hohen Wert auf den Forscherdrang seiner Mitarbeiter legt, bietet ihm an, dass er dort sein U-Boot zur Serienreife entwickeln darf. Bernd ist begeistert und zieht im Januar 1969 nach Oberhausen in die Annabergstraße 43. Im Juni 1969 arbeitet Bernd in der Deutschen Unterwasser-Forschungsstation BAH II mit, die eine Tauchstation auf dem Grunde des Bodensees betreibt. Am 15. September 1969 wird sein zur Serienreife entwickelter BABCOCK-Scooter der öffentlichkeit vorgeführt. Auf seine Erfindung werden ihm gleich drei internationale Patente erteilt. Bernd berichtet seiner Mutter per Brief stolz von seinem neuen Leben in Westdeutschland. Doch die Mutter in Sebnitz macht sich Sorgen. Sie und ihre beiden Söhne Horst und Achim wurden von der Staatssicherheit abgeholt und verhört. Die verhasste Stasi hat auch Nachbarn, Freunde und Bekannte befragt. Aus Sorge, dass die Post von der Stasi kontrolliert werden könnte, korrespondieren sie zeitweise über die Adressen von Verwandten. Die Mutter bekommt Besuch von einem ihr flüchtig bekannten Geschäftsmann aus Sebnitz. Er erzählt, dass er beruflich in den Westen reisen darf und bietet an, dass er ihre Post mitnimmt und im Westen einsteckt oder persönlich bei Bernd abgibt. Die Mutter nimmt diesen Service dankend an. Sie ahnt nicht, dass der Geschäftsmann für die Stasi arbeitet. Schon wenige Wochen nach der Präsentation seines Scooters endet Bernds Zeit bei Babcock & Wilcox. Die ILO-Werke in Pinneberg bei Hamburg, die zum amerikanischen Rockwell-Konzern gehören, wollen Bernd Böttger sowie die Rechte an seiner Erfindung und an den Patenten haben. Sie bieten Bernd eine eigene Forschungsabteilung an, ein Monatsgehalt von 1800 DM (was damals viel Geld war) sowie im ersten Jahr ein zusätzliches Honorar von 200.000 DM aus seinen Patenten. Die Einnahmen aus den Patenten sollen sich in den nächsten drei Jahren auf etwa 1,2 Millionen DM steigern. Zusätzlich zahlen sie eine "schwindelerregend hohe Ablösesumme" an den bisherigen Arbeitgeber, um Bernd zu bekommen. Bernd unterschreibt und schwebt im Glück. Er zieht nach Pinneberg in die Pension von Frau Braun in der Stettiner Straße 6 und arbeitet in seiner eigenen Forschungsabteilung in den ILO-Werken. Das Unternehmen produziert eine breite Palette von Spezialmotoren - vom Rasenmähermotor bis zum Torpedo-Antrieb. Den größten Umsatz macht ILO als Hersteller von Moped-Motoren für mehrere westdeutsche Firmen. Bernd steht also ein breites Sortiment von kleinen 2-Takt-Benzinmotoren zur Verfügung. ILO produziert aber auch Spezialmotoren für das U.S.-Militär. Bernd erhält den Auftrag, neben dem zivilen Aqua Scooter für den Tauchsport auch eine militärische Variante für die Kampfschwimmer der U.S.-Navy zu entwickeln. Alles ist streng geheim. Der militärische Aqua Scooter soll leistungsstark sein und geräuschlos bis zum 15 km/h schnell unter Wasser fahren können. Das bleibt der HVA, der Spezialabteilung für Auslandsspionage der Staatssicherheit, nicht verborgen. Unter dem OpV (Operativer Vorgang) mit dem Decknamen "Taucher" ermittelt die Stasi ab 1970 das Leben von Bernd Böttger in Pinneberg. Sie stellt fest, dass er ein Auto und ein Schlauchboot besitzt und an den Wochenenden stets an die Ost- oder Nordsee fährt, um seine Tauchapparate auszuprobieren. Das macht er selbst im Winter. Er ist nach wie vor ein Einzelgänger. Manchmal reist er ans Mittelmeer nach Frankreich oder Spanien, um dort seine U-Boote, die es inzwischen in verschiedenen Varianten gibt, zu testen. Die Stasi versucht herauszufinden, was genau Bernd in den ILO-Werken entwickelt. Sie recherchiert vor Ort in Pinneberg viel über die ILO-Werke, findet aber nichts über die konkrete Tätigkeit von Bernd heraus. Seine Forschungsabteilung ist innerhalb des Werkes hermetisch abgeschirmt. Niemand weiß, was die Stasi-Führung mit dem Mann vorhat, der sie so ausgetrickst hat. Vielleicht wollen sie ihn zurückholen, um seine Erfindung und die sprudelnden Devisen-Einnahmen in den Dienst des Sozialismus zu stellen? Möglicherweise haben die Militärs des Warschauer Paktes ein Interesse an der Erfindung? Oder wollen sie ihn einfach liquidieren? Bernd ist glücklich und spart das viele Geld, um sich ein Segelschiff zu kaufen und damit um die Welt zu segeln. In einem Brief an seine Mutter vom 12. August 1971 berichtet er: "Seit Sonntag habe ich einen neuen Zimmernachbarn. Er ist aus Dresden und vor ca. 4 Wochen abgehauen über Ungarn - Jugoslawien - österreich. Er ist ein prima Kumpel. Das bemerkenswerte aber ist, das bereits jetzt sein Vater von drüben hier zu Besuch ist." Bernd ist blauäugig und macht sich keine weiteren Gedanken über seinen neuen Zimmernachbarn, der Erich Wolfgang K. heißt. Auch am Mittelmeer hat Bernd jetzt neue Freunde. Sie wohnen in Perpignan im Süden Frankreichs kurz vor der spanischen Grenze. Am Samstag, dem 26. August 1972, besucht sie Bernd in Perpignan und sie verabreden sich für den nächsten Tag zum gemeinsamen Tauchen in der Ankerbucht Cala Joncols, die bereits auf der spanischen Seite liegt. Bernd fährt mit seinem Auto schon vor in die beliebte Bucht, wo er im Zelt übernachtet. Sonntagfrüh fahren Jean Paul B., seine Frau Jaqueline und sein Schwager mit ihrem Motorboot "Norfeu", welches im Hafen der spanischen Stadt Rosas liegt, zu Bernd in die Cala Joncols, wo er schon auf sie wartet. Gegen 10.30 Uhr treffen sie sich und Bernd geht mit an Bord der "Norfeu". Der 27. August 1972 ist ein wunderschöner, sonniger Sonntag. Schon vormittags ankern viele Motorboote in der Cala Joncols. Gemeinsam fahren Bernd und seine neuen Freunde mit dem Motorboot "Norfeu" zu den engen Felsenbuchten, die sich wenige hundert Meter weiter in Richtung Osten anschließen. Alle sind guter Laune und an Bord wird viel gelacht. Etwa 11 Uhr springt Bernd mit Schnorchel, Maske, Flossen und seiner selbst gebauten Harpune ins Wasser, um etwas fürs Frühstück zu jagen. Jean Paul B. legt danach seine Tauchausrüstung mit Pressluftflasche an und geht auch auf Tiefe. Um 11.30 Uhr kommt Jean Paul hoch geschossen und schreit um Hilfe. Bernd liegt regungslos in elf Metern Tiefe auf einem Felsen. Er holt ihn hoch. Sie rufen ein schnelles Motorboot heran und rasen zum nächsten Arzt in der sechs Seemeilen entfernten Hafenstadt Rosas. Der spanische Arzt Dr. Pereira kann nur noch den Tod feststellen. Bei der späteren Obduktion wird als Todesursache "Ersticken" protokolliert. Einen Tag nach Bernds Tod verschwindet sein ehemaliger Zimmernachbar Hals über Kopf aus der Pension in Pinneberg. Bernds Mutter bittet um Genehmigung einer Westreise, um von ihrem toten Sohn Abschied nehmen zu dürfen. Obwohl sie bereits Rentnerin ist, lehnt die Stasi die Reise ab. Stattdessen bekommt sie Bernds Asche. Nach der Wende versucht Bernds jüngerer Bruder Achim Böttger den mysteriösen Tod seines Bruders aufzuklären. Am 8.03.1993 stellte er bei der 1991 gegründeten ZERV (Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität) Strafanzeige wegen des Verdachts der Ermordung seines Bruders durch die Staatssicherheit. Die Zeugen, die Bernd Böttger unmittelbar vor und nach seinem Tod gesehen haben, leben noch heute in Perpignan. Doch niemand macht sich die Mühe, unmittelbar am Tatort zu ermitteln. Stattdessen sind die Beamten der ZERV so clever und fragen den ehemaligen Stasi-Chef von Sebnitz, ob die Absicht bestand, Bernd Böttger im Westen zu ermorden, was jener erwartungsgemä° verneint. Am 2.10.1995 schreibt die Staatsanwaltschaft Berlin an Achim Böttger, dass "erfolgversprechende Ermittlungsansätze nicht ersichtlich sind" und darum das Verfahren eingestellt wird. Achim Böttger hat bis heute die Hoffnung nicht aufgegeben, dass irgendwann ein noch lebender Zeuge oder ein Schriftstück aus den Stasi-Archiven erklären wird, durch welche Umstände sein Bruder ums Leben kam. Nach Bernds Tod lebt seine Erfindung weiter. In den ILO-Werken wird der zivile Aqua-Scooter in Serie gebaut. Der dazu verwendete 2-Takt-Motor wird von ILO selbst hergestellt. Er hat einen Hubraum von 48 cm3 und entwickelt bei 4000 Umdrehungen eine Leistung von 2 PS. Die leistungsstärkere, militärische Version sieht man in mehreren James-Bond-Filmen. Wie viele Aqua Scooter für die U.S. Navy produziert wurden, ist und bleibt geheim. Zum Kampfeinsatz kamen sie erstmals im Oktober 1973 im Jom-Kippur-Krieg, als die israelischen Kampfschwimmer mit Aqua Scootern den Suez-Kanal überqueren. Zum Jahresende 1990 werden die Tore der ILO-Werke für immer schlossen. Der Aqua Scooter mit Verbrennungsmotor wird noch lange in Italien weiter gebaut. Inzwischen gibt es jedoch so leistungsstarke Akkus, dass moderne Mini-U-Boote von einem Elektromotor angetrieben werden. Sie sind heute beliebtes Wasser-Spielzeug auf größeren Charterbooten. Nur wenige wissen, dass der Erfinder aus Sachsen kam und damit in die Freiheit floh. Literatur: Christine und Bodo Müller: "über die Ostsee in die Freiheit", Delius Klasing Verlag. Bodo Müller: "Faszination Freiheit", Ch. Links Verlag. Christine Vogt-Müller: "Hinter dem Horizont liegt die Freiheit..." Delius Klasing Verlag (z.Zt. nur antiquarisch erhältlich).